DA    DE    EL    EN    ES    FI    FR    IT    NL    PT    SV   
 
Die Präsidentin des Europäischen Parlaments
EN  FR Rede
 
Frau Nicole FONTAINE, Präsidentin des Europäischen Parlaments

Todesstrafe Offener Brief an die Bevölkerung der Vereinigten Staaten
 

Das Europäische Parlament als demokratisches Vertretungsorgan von 370 Millionen Europäern, die heute in der Europäischen Union leben, steht mehrheitlich - und das gilt für alle in ihm vertretenden Nationalitäten und politischen Richtungen - verständnislos vor der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten heute die einzige demokratische Großmacht der Welt sind, die nicht auf die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe verzichtet haben.

Immer wenn ein Todesurteil in einem der Bundesstaaten Ihres Landes ausgesprochen wird, reagiert man mittlerweile überall in der Welt mit Empörung und Tadel. Alle Gnadenappelle, die von den höchsten religiösen oder politischen Instanzen bei den für die letzte Entscheidung verantwortlichen Gouverneuren eingelegt werden, stoßen auf taube Ohren.

Die jüngste Hinrichtung von Rocco Derek Barnabei hat in Europa besonderes Aufsehen erregt, zum einen, weil - wieder einmal - Zweifel an der Schuld des Hingerichteten fortbestehen, zum anderen, weil Barnabei zwar amerikanischer Staatsbürger ist, seine Familie jedoch aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union - Italien - stammt.

Alle diplomatischen Schritte, die wir auf Bitten der Angehörigen des Verurteilten und der seine Sache unterstützenden Vereinigungen unternommen haben, blieben folgenlos. Deshalb richte ich nunmehr diesen offenen Brief an Sie, der nicht als moralische Lektion, sondern als Teil eines freundschaftlichen Dialoges zu verstehen ist, der unsere beiden Kontinente verbindet.

Wer wollte hier in Europa bestreiten, dass Ihr großes Land überall in der Welt für Freiheit und Demokratie steht? Niemand hat hier vergessen, was wir Ihnen schulden dafür, dass Sie in den beiden letzten Weltkriegen auch Ihre Kinder um der Freiheit willen geopfert haben. Niemand bestreitet, dass der Supreme Court entschieden hat, dass die Todesstrafe im Einklang mit der Verfassung der Vereinigten Staaten steht. Niemand bestreitet, dass den Verurteilten nach der Verhängung der Todesstrafe noch viele Jahre bleiben, um eine Revision des Urteils zu erreichen. Niemand bestreitet, dass jede organisierte Gesellschaft das Recht hat, sich vor Verbrechern zu schützen, die die Sicherheit von Menschen und Gütern bedrohen, bzw. diese Verbrecher entsprechend ihren Straftaten zu bestrafen.

Wir vergessen in Europa nicht, dass wir bis vor kurzem selbst die Todesstrafe verhängt und oft grausam vollstreckt haben. Einige Staaten hatten sie seit langem aus ihrem Strafrecht gestrichen oder in der Praxis abgeschafft. Aber noch vor weniger als zwanzig Jahren gab es in großen europäischen Staaten, die sich der Tradition der Menschenrechte und der allgemeinen Werte zutiefst verpflichtet fühlen, wie z.B. in meinem Land, Frankreich, noch immer die Todesstrafe, und als deren Parlamente die Abschaffung dieser Strafe durchsetzten, wurden die politischen Debatten darüber ebenso vehement geführt wie heute in den Vereinigten Staaten. Mittlerweile ist alle Polemik erloschen.

In ganz Europa hat sich heute jedoch ein Problembewusstsein entwickelt, das die noch verbliebenen Zweifel beseitigt hat. Dieses Problembewusstsein, das meiner Ansicht nach auch die amerikanische Bevölkerung anstreben sollte, gründet sich auf folgende Erkenntnisse: Keine objektive Studie hat jemals bewiesen, dass die Todesstrafe Schwerverbrecher abschreckt, und in keinem europäischen Land, das diese Strafe in letzter Zeit abgeschafft hat, nehmen schwere Verbrechen zu. Die modernen Gesellschaften können sich heute vor Schwerverbrechern auch schützen, ohne das geheiligte Prinzip der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens zu verletzen. Die Todesstrafe ist immer ein archaisches Überbleibsel des alten Gesetzes der Vergeltung: Du hast getötet, also musst auch Du getötet werden. Das makabre Szenario der Hinrichtung ist weniger ein würdevoller als vielmehr der rituelle Vollzug eines legalen Mordes. Wenn ein durchaus stabiler und mit anderen Schutzmechanismen ausgestatteter Rechtsstaat die Todesstrafe anwendet, untergräbt er das Prinzip der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und die moralische Autorität, über die er verfügt, um dieses Prinzip überall dort, wo es verletzt wird, zu schützen. Außerdem werden zu viele Verurteilte nach ihrer Hinrichtung als unschuldig erkannt, und damit hat dann die Gesellschaft kraft ihres eigenen Rechts ein nicht wiedergutzumachendes Verbrechen begangen.

Selbst wenn es in der ganzen Rechtsgeschichte unserer modernen Gesellschaften nur einen einzigen Unschuldigen gegeben hätte, der ohne Not zum Tode verurteilt und hingerichtet worden wäre, würde dies ausreichen, um die Todesstrafe im Grundsatz zu verurteilen. Und solche Fälle sind bekanntlich vorgekommen, insbesondere in den Vereinigten Staaten.

Mir ist bekannt, dass die meisten Menschen in Ihrem Land nach wie vor für die Todesstrafe sind und dass in einer Demokratie die Souveränität beim Volk liegt. Kann das jedoch diejenigen von der Verantwortung befreien, denen eine weise, zeitgemäße Führung ihres Landes obliegt? Konnte sich Präsident Lincoln auf die Mehrheit der Südstaaten stützen, als er die Sklaverei abschaffte? Konnte Präsident Roosevelt mit der mehrheitlichen Unterstützung der Amerikaner rechnen, als er die Vereinigten Staaten den Europäern zur Seite sandte, um in einer von den Nazis und ihren Verbündeten verwüsteten Welt Frieden und Freiheit wiederherzustellen? Als Präsident Kennedy das Ende der in einigen Bundesstaaten hartnäckig andauernden Rassentrennung durchsetzte, bewies er - zweifellos unter Einsatz seines eigenen Lebens - den Mut, den vielen entgegenzutreten, die diese Trennung - zur Not auch mit Gewalt - aufrechterhalten wollten. Zählen Opportunismus und Populismus wirklich so stark, dass die heutigen Politiker nur noch ein matter Abklatsch jener großen Visionäre sind, die die Einheit und Größe der amerikanischen Nation ausmachten?

Ich möchte hier - nicht als Zensor, sondern als Freundin einer bedeutenden Weltmacht - den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass die Vereinigten Staaten mit Europa an einem Strang ziehen und die Todesstrafe abschaffen, da sie in unserem neuen Jahrtausend keine Daseinsberechtigung mehr hat.

 
© European ParliamentResponsible Website : Hélène Lanvert