BERICHT über die Beziehungen des Europäischen Parlaments zu den Organen, in denen die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind

18.10.2013 - (2012/2034(INI))

Ausschuss für konstitutionelle Fragen
Berichterstatter: Alain Lamassoure


Verfahren : 2012/2034(INI)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
A7-0336/2013
Eingereichte Texte :
A7-0336/2013
Angenommene Texte :

ENTWURF EINER ENTSCHLIESSUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

zu den Beziehungen des Europäischen Parlaments zu den Organen, in denen die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind

(2012/2034(INI))

Das Europäische Parlament,

–   gestützt auf die Artikel 15 und 16 des Vertrags über die Europäische Union und auf Artikel 235 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union,

–   in Kenntnis der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. März 2010, vom 17. Juni 2010, vom 16. September 2010, vom 28. und 29. Oktober 2010, vom 16. und 17. Dezember 2010, vom 4. Februar 2011, vom 24. und 25. März 2011, vom 23. und 24. Juni 2011, vom 23. Oktober 2011, vom 9. Dezember 2011, vom 1. und 2. März 2012, vom 28. und 29. Juni 2012, vom 18. und 19. Oktober 2012, vom 13. und 14. Dezember 2012, vom 7. und 8. Februar 2013, vom 14.. und 15. März 2013 sowie vom 27. und 28. Juni 2013,

–   in Kenntnis der Erklärungen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im Anschluss an die informellen Treffen der Mitglieder des Europäischen Rates vom 26. Oktober 2011 und 30. Januar 2012,

–   unter Hinweis auf seine Entschließung vom 7. Mai 2009 zu den Auswirkungen des Vertrags von Lissabon auf die Entwicklung des institutionellen Gleichgewichts der Europäischen Union[1],

–   unter Hinweis auf seine Entschließung vom 4. Juli 2013 zu verbesserten praktischen Vorkehrungen für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2014[2];

–   gestützt auf Artikel 48, 110 und 127 seiner Geschäftsordnung,

–   unter Hinweis auf den Bericht des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (A7‑0336/2013),

A. unter Hinweis darauf, dass dem Europäischen Rat durch den Vertrag von Lissabon der Status eines europäischen Organs eingeräumt wurde, ohne dass seine Rolle verändert wurde, denn gemäß Artikel 15 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union gibt „der Europäische Rat … der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest“, wird aber „nicht gesetzgeberisch tätig“;

B.  in der Erwägung, dass sich das Parlament der Unabhängigkeit des Europäischen Rates und der herausragenden Rolle, die ihm somit durch die Verträge übertragen wird, durchaus bewusst ist

C. in der Erwägung, dass der Europäische Rat seine Rolle unter dem Druck der Krise allerdings erheblich ausgedehnt hat: Vervielfachung der Sondertagungen, Aufnahme von Themen, die normalerweise auf der Ebene des Rates der Europäischen Union behandelt werden; in der Erwägung, dass der Europäische Rat in dieser Hinsicht gegen die ausschlaggebende Vorgabe des Vertrags verstoßen hat, nach der er über keinerlei gesetzgebende Funktion verfügt;

D. in der Erwägung, dass die Versuchung für die Staats- und Regierungschefs, auf zwischenstaatliche Mittel zurückzugreifen, die „Gemeinschaftsmethode“ unter Verletzung der Verträge gefährdet;

E.  in der Überzeugung, dass zur Stärkung des demokratischen Charakters des Beschlussfassungsprozesses sachgerechte Vorkehrungen für die parlamentarische Kontrolle umgesetzt werden müssen;

F.  in der Erwägung, dass die Mitglieder des Europäischen Rates nach Maßgabe des Vertrags von Lissabon ihrem jeweiligen nationalen Parlament gegenüber persönlich Rechenschaft ablegen müssen, gemeinsam jedoch nur sich selbst gegenüber rechenschaftspflichtig sind;

G. in der Erwägung, dass dem Präsidenten des Europäischen Rates eine Vorschlagsfunktion – zumeist in Verbindung mit seinen Amtskollegen aus anderen Organen – übertragen wurde und dass er damit faktisch zum Chefunterhändler im Namen der Mitgliedstaaten für Sachverhalte geworden ist, deren rechtliche Umsetzung seit dem Vertrag von Lissabon dem Mitentscheidungsverfahren unterliegt;

H. in der Erwägung, dass Präsident Van Rompuy im Einvernehmen mit den zuständigen Stellen des Parlaments und insbesondere durch einen entsprechenden Schriftwechsel bemüht war, den Anforderungen an Information und Transparenz bestmöglich Rechnung zu tragen: Er hat die Ausschussvorsitzenden, Berichterstatter und „Sherpas“ des Parlaments zu mehreren wichtigen Themen persönlich getroffen; er hat auf schriftliche Anfragen geantwortet; er hat regelmäßig Berichte über Tagungen des Europäischen Rates entweder im Plenum oder in der erweiterten Konferenz der Präsidenten vorgelegt und hatte zahlreiche Kontakte mit den Fraktionsvorsitzenden;

I.   in der Erwägung, dass diese Praxis formalisiert werden sollte, um zukünftig als Präzedenzfall zu dienen, und dass sie auch verbesserungswürdig ist; unter Hinweis darauf, dass der Europäische Rat eine legislative Einigung, die zwischen dem Parlament und dem Rat über das europäische Patentsystem erzielt worden war, wieder infrage gestellt hat, dass sich der Europäische Rat in der Frage der wirtschaftspolitischen Steuerung dazu veranlasst sah, Bestimmungen neu zu verhandeln, die identisch mit denjenigen waren, die bereits durch eine frühere Verordnung für anwendbar erklärt worden waren, und dass der Europäische Rat zur Europäischen Bankenaufsichtsbehörde nacheinander im Abstand von einem Jahr zwei gegensätzliche Standpunkte angenommen hat, was vermeidbar gewesen wäre, wenn er den Standpunkt des Parlaments stärker berücksichtigt hätte; in der Erwägung, dass der mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020 zu einem regelrechten gesetzgeberischen Kriminalstück geführt hat, da die rechtlich erforderliche Einstimmigkeit im Rat nicht erzielt werden konnte, ohne einige der wichtigen politischen Entscheidungen zur rechtlichen Regelung der zu finanzierenden politischen Maßnahmen vorzuziehen, wodurch die Rolle des Parlaments in diesen Politikbereichen auf die Änderung zweitrangiger Bestimmungen reduziert wurde;

J.   in der Erwägung, dass in all diesen – definitionsgemäß wichtigsten – Fällen durch das Fehlen eines formalisierten Dialogs zwischen Parlament und Rat verhindert wird, dass das Parlament seine in den Verträgen vorgesehene Rolle als Mitgesetzgeber in vollem Umfang ausüben kann; in der Erwägung, dass sich oft zeigte, dass die offiziellen Gesprächspartner der Vertreter des Parlaments keine Befugnis hatten, ein wirkliches Engagement der Regierungen zu erwirken; in der Erwägung, dass der amtierende Präsident des Rates und der Rat (Allgemeine Angelegenheiten)[3] zwar weiterhin theoretisch mit der Vorbereitung der Tagungen des Europäischen Rates betraut sind, aber immer deutlicher wird, dass sie nicht mehr als eine marginale oder technische Rolle spielen; in der Erwägung, dass die traditionelle einführende Ansprache des Präsidenten des Europäischen Parlaments bei der Eröffnung der Tagungen des Europäischen Rates kein ausreichendes Verfahren ist;

K. in der Erwägung, dass das Europäische Parlament im Vorfeld der Tagungen des Europäischen Rates dessen Präsidenten nicht zu einer Debatte auffordern kann; in der Erwägung, dass die Organisation des Parlaments im Vorfeld der Debatten, in denen der Präsident nach Tagungen des Europäischen Rates Bericht erstattet, zu wünschen übrig lässt;

L.  in der Erwägung, dass es dennoch begrüßenswert ist, dass mehrere Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EU die Tribüne des Parlaments für Debatten über die Zukunft Europas nutzen;

M. in der Erwägung, dass die Funktionsweise des Ministerrates Anlass zu tiefer Besorgnis gibt und dass offenbar weder der Europäische Rat noch die rotierende Präsidentschaft in der Lage sind, in ihrer Tätigkeit die wünschenswerten Standards im Hinblick auf Schnelligkeit, Strategie, Konsistenz, Kohärenz oder Transparenz zu erfüllen; in der Erwägung, dass durch solche Mängel in der zweiten Kammer der Legislative die Rechtsetzung in der Europäischen Union behindert wird;

N. in der Erwägung, dass Artikel 17 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union nach den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament zum ersten Mal Anwendung finden wird, dass diese grundlegende Bestimmung darauf abzielt, den Präsidenten der Kommission entsprechend einem parlamentarischen System für die Wahl ihrer Abgeordneten von den Bürgern wählen zu lassen, und dass dieses Ergebnis nur erzielt werden kann, wenn die europäischen Parteien, das Parlament und der Europäische Rat gemäß ihren jeweiligen Zuständigkeiten in diesem Sinne handeln, insbesondere im Rahmen der Konsultationen zur Umsetzung der dem Vertrag von Lissabon als Anhang beigefügten Erklärung Nr. 11;

1.  ist der Ansicht, dass in Anbetracht der Erfahrungen aus diesen vier Jahren eine Verbesserung und Formalisierung der Arbeitsbeziehungen zwischen dem Europäischen Rat und dem Parlament erforderlich ist; ist der Auffassung, dass dies in Form einer gemeinsamen Erklärung, eine Interinstitutionellen Vereinbarung oder eines Briefwechsels erfolgen könnte;

2.  vertritt die Auffassung, dass allen Tagungen des Europäischen Rates, außer in außergewöhnlichen dringenden Fällen, eine Debatte im Parlament vorausgehen sollte, zu der der Präsident des Europäischen Rates selbst erscheint, um die Themen der Agenda vorzustellen, so dass eine Entschließung angenommen werden kann; ist der Ansicht, dass das Parlament und der Europäische Rat ihre jeweilige Arbeitsweise so organisieren müssen, dass das Parlament die Gelegenheit erhält, seine Meinung zu diesen Punkten rechtzeitig bekannt zu machen, und der Präsident des Europäischen Rates nach jeder Tagung des Europäischen Rates in der Plenarsitzung Bericht erstatten kann; vertritt die Auffassung, dass Tagungen des Europäischen Rates, soweit dies möglich ist, nicht während der Plenartagungswochen des Parlaments stattfinden sollten;

3.  verweist darauf, dass die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates Verhandlungsdirektiven für den Ministerrat sind und dass sie in keinem Fall rote Linien darstellen, die mit dem Parlament nicht verhandelbar wären; fordert, dass eine Standardformulierung in die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates aufgenommen wird, mit der auf die Bestimmungen in Artikel 15 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union verwiesen wird;

4.  fordert den Europäischen Rat nachdrücklich auf, für den Fall, dass eine Einigung zwischen den Vertretern des Parlaments und denjenigen des Rates im Kontext eines Gesetzgebungsverfahrens erzielt wurde, die Angelegenheit nicht erneut zu behandeln, es sei denn, der amtierende Vorsitz hat ausdrücklich erklärt, dass die Einigung unter Zustimmungsvorbehalt steht;

5.  schlägt vor, dass der Präsident des Europäischen Rates und die Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik zusammen mit dem Präsidenten der Kommission eingeladen werden, einmal jährlich an einer allgemeinen Debatte über die interne und externe Lage der Union teilzunehmen, wobei Überschneidungen mit der bestehenden jährlichen Debatte über die Lage der Union zu vermeiden sind, während derer der Präsident der Kommission sein Arbeitsprogramm und die Berichte über seine Tätigkeit dem Parlament vorlegt, demgegenüber er rechenschaftspflichtig ist;

6.  verweist darauf, dass der Präsident des Europäischen Rates im Unterschied zum Präsidenten der Kommission nicht dem Parlament gegenüber verantwortlich ist und dass die Organisation von Debatten, an denen er teilnimmt, dieser Tatsache Rechnung tragen muss, wobei es neben den Fraktionsvorsitzenden auch anderen Mitgliedern möglich sein sollte, mit dem Präsidenten des Europäischen Rates in einen Dialog zu treten; ist dagegen der Ansicht, dass das Verfahren der Anfragen zur schriftlichen Beantwortung nicht geeignet erscheint;

7.  fordert, dass die rechtzeitige Einbeziehung des Parlaments in der dem jeweiligen Fall angemessenen Form immer dann in Zusammenarbeit mit dem Parlament beschlossen wird, wenn der Europäische Rat einen Aktionsplan oder ein Verfahren einleitet, der bzw. das eine legislaitve Dimension umfassen könnte; besteht darauf, dass der Präsident des Parlaments in vollem Umfang an den Tagungen des Europäischen Rates teilnimmt, wenn interinstitutionelle Fragen behandelt werden – das Parlament und der Europäische Rat würden ihre Geschäftsordnungen dementsprechend anpassen, um die Wahl ihrer jeweiligen Vertreter festzulegen und klarzustellen, in welcher Form diese ein Verhandlungsmandat erhalten und über die Verhandlungen Bericht erstatten;

8.  empfiehlt dem Europäischen Rat, vor Beginn der Europawahlkampagne klar bekanntzugeben, wie er die Entscheidung der europäischen Bürger bei der Ernennung des Präsidenten der Kommission gemäß Artikel 17 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union im Rahmen der Konsultationen, die zwischen dem Parlament und dem Europäischen Rat zur Umsetzung der dem Vertrag von Lissabon als Anhang beigefügten Erklärung Nr. 11 stattfinden sollten, Rechnung zu tragen gedenkt; erinnert daran, wie wichtig es ist, die Sichtbarkeit und den europäischen Charakter der Wahlkampagne zu stärken; fordert jedes Mitglied des Europäischen Rates auf, im Voraus bekannt zu geben, wie es die Wahl seiner Mitbürger achten wird, wenn es einen oder mehrere Kandidaten für das Amt eines Kommissionsmitglieds aus seinem Land vorschlägt;

9.  beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Europäischen Rat, dem Rat und der Kommission sowie den Staats- und Regierungschefs und Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.

ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG IM AUSSCHUSS

Datum der Annahme

14.10.2013

 

 

 

Ergebnis der Schlussabstimmung

+:

–:

0:

22

4

0

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder

Alfredo Antoniozzi, Andrew Henry William Brons, Zdravka Bušić, Carlo Casini, Andrew Duff, Ashley Fox, Roberto Gualtieri, Zita Gurmai, Gerald Häfner, Stanimir Ilchev, Constance Le Grip, Morten Messerschmidt, Sandra Petrović Jakovina, Paulo Rangel, Algirdas Saudargas, Søren Bo Søndergaard, Rafał Trzaskowski, Luis Yáñez-Barnuevo García

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellvertreter(innen)

Elmar Brok, David Campbell Bannerman, Dimitrios Droutsas, Isabelle Durant, Marietta Giannakou, Alain Lamassoure, Andrej Plenković

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellv. (Art. 187 Abs. 2)

Edward McMillan-Scott, Elisabeth Morin-Chartier, Catherine Trautmann